Zeit und Raum

In der Waldorfschule stehen nicht nur die Lehrpläne, sondern vor allem die Kinder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir lassen dem Kind Zeit und Raum sich zu entwickeln.

Schulkonzert 2017 01

Fotos vom Schulkonzert am 6. April 2017

Am 6. April, einem kühlen Frühlingsabend, machte ich mich auf in Richtung Waldorfschule. Zum Schulkonzert 2017. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde. Vorsorglich passte ich meine Erwartungen an. Ich stellte mich auf unmotivierte Halbwüchsige ein. Auf ein halbstündiges Geigenquietschen in einer von schülerschweiß geschwängerten Turnhalle, mit einem Publikum aus müden Müttern und gestressten Vätern.

Es war zehn Minuten vor halb acht. Die Turnhalle war zum Bersten gefüllt. Alle Plätze waren bereits besetzt von einem bunten Publikum, in der jede Altersschattierung vertreten war. Mit viel Glück konnte ich noch einen Stehplatz ergattern. Die Atmosphäre hatte etwas von einer nervösen Angespanntheit, so wie man sie von Abschlussbällen kennt. Ich bereute bereits, dass ich mich nicht früher auf den Weg gemacht hatte.

In blütenweißen Oberteilen betrat der Chor der Mittelstufe die Bühne. Dort standen junge Menschen vor mir, changierend zwischen verklemmter Peinlichkeit und stolzem Präsentationswillen. Nachdem der Saal zur Ruhe kam, hob ein leichter Doo-Wop-Song an und entfaltete sich zu „Good Night Sweetheart, Good Night“. Ein alter Hit aus den 1950ern, hier frisch und munter vorgetragen von jungen Schülern. Dieser und die folgenden Songs breiteten sich mit dem Zauber kindlicher Stimmen im Raum aus. Es bildete sich ein vokaler Organismus der Leichtigkeit, der den Saal mit sich zog. Kinderchöre haben etwas Besonderes an sich. Vielleicht liegt es daran, dass man die Stimmen der eigenen Vergangenheit hört. Einer Vergangenheit in der Träume noch groß und so vieles neu und bunt war.

Das Lied der Elfen, vorgetragen vom Mädchenchor der Mittelstufe und begleitet vom Projektorchester der Oberstufe leitete über zum Auftritt des Orchesters der Mittelstufe, dirigiert von Robert Fehre. Neben mir stand ein Vater, dessen Sohn dort vorn auf dem Cello spielte. Es erfüllte mich mit heller Freude zu sehen, welche emotionale Dichte in seinem Gesicht aufleuchte, als die Stücke von Rameau und Händel erklangen.

Als dann der Chor der Oberstufe unter der Leitung von Joachim Stein mit dem bekannten Song „House of the rising sun“ anhob, da lief eine Gänsehautatmosphäre durch den Saal. „Oh mother tell your children, not to do what I have done“, sangen die aufstrebenden Stimmen. Und damit entfaltete sich mit der Musik eine mehrschichtige Botschaft durch den Raum. Eine reflexive Warnung an sich selbst (gib Acht, was aus dir wird) und eine bittende Aufforderung an die Eltern im Publikum (gib Acht auf mich). Der Song wirkte noch im lauten Applaus nach, als bereits die ersten Takte von ABBAs „Mamma Mia“ erklangen. „There’s a fire within my soul“, hörte man die Schüler singen. Und dieses Seelenfeuer war zum Greifen nah, denn der Saal kam spürbar ins Schwingen.

Den Abschluss bildete das Orchester der Oberstufe mit der schicksalhaften, tragischen Oper Carmen. Dieter Wahlbuhl vom Theater für Niedersachsen erzählte die dramatische Geschichte, während Katrin Bretschneider das Oberstufenorchester souverän durch die verschiedenen musikalischen Akte dirigierte. Liebe, Freiheit und Tod. Themen, mit einem festen, zeitlosen Kern.

Ich hatte eine halbe Stunde Qualen für die Ohren erwartet, und was ich bekam war eine zweistündige Überraschung. Diese Veranstaltung bedarf einer größeren Bühne! Hier wurde etwas gezeigt, dass man von so jungen Persönlichkeiten nicht erwarten würde und hinter dem sich ein Kraftakt an Organisationstalent verbirgt. Das Schulkonzert der Waldorfschule kann sich zeigen lassen. Mehr noch, es muss erlebt werden.

„Fly with me“, sang der Auswahl-Chor der Oberstufe. Und beschwingt von diesem musikalischen Abend flog ich mit meinem Fahrrad nach Hause, eine Melodie kindlicher Aufgeregtheit im Ohr.

Torsten Bergt

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